Phase 4 (ab 2000): Selbstorganisierte Strukturpolitik (?)

Die positiven wie negativen Erfahrungen mit der IBA und den "Regionalen Entwicklungskonferenzen", die hohen Arbeitslosenzahlen und regionalwirtschaftlichen Abkopplungsprozesse, die neue öffentliche Armut, neue Chancen, aber auch Gefahren der EU-Osterweiterung, die Auswirkungen der aktuellen Wirtschaftskrise und nicht zuletzt die schockartige Erkenntnis der kommenden, demographisch bedingten Bevölkerungsverluste bilden ein komplexes Flechtwerk an Rahmenbedingungen der absehbaren Zukunftsentwicklung. Immer wieder erweist sich das Ruhrgebiet als "Bremsklotz" Nordrhein-Westfalens, wenn es um die imageträchtigen Spitzenplätze in der deutschen oder gar europäischen "Konkurrenz der Regionen" geht.

Die Verfahren und Instrumente der regionalisierten Strukturpolitik scheinen ausgereizt zu sein. Sie haben nicht die Einheit, sondern die Fragmentierung des Ruhrgebietes gefördert. Ein erneuter Strategiewechsel deutet sich an, nachdem die intensiven Versuche der Landesregierung gescheitert sind, den RVR abzuschaffen oder weiter zu schwächen.

Wie in der bisherigen Entwicklung des strukturpolitischen Lernpfades beobachtbar ist, so erwächst auch aus der gegenwärtigen Krise der Humus für neues Denken: Einige Kernstädte des Ruhrgebietes (Essen, Gelsenkirchen, Oberhausen) machen mit der "Ruhrstadt", andere Gemeinden mit der interkommunalen Kooperation ernst. Der landespolitische Favorit einer Rhein-Ruhr-Region ist in den Hintergrund getreten. Eine Vielzahl von kleineren und größeren Projekten treibt den Strukturwandel aktiv voran und teilweise auch "zu neuen Ufern".

Der RVR hat sich zum Impulsgeber für eine selbstgestaltete und selbstverantwortete regionale Strukturpolitik gemacht. Der Landtag NRW hat 2007 dem Gesetz zur Übertragung der Regionalplanung für die Metropole Ruhr auf den Regionalverband Ruhr (RVR) zugestimmt. Somit wird er 2009 die Planungshoheit über die Metropole Ruhr wenigstens teilweise wiedergewinnen.
Titelblatt Perspektive Ruhr 2002
Quelle: KVR 2002
Nach umfangreichen Vorarbeiten hat der KVR im Jahr 2002 die Strategie "Perspektive Ruhr. Ein strukturpolitisches Programm für das Ruhrgebiet" vorgelegt. Kerninstrument sind zwölf sog. Kompetenzfelder (s. Thema "Kompetenzfeldwirtschaft").

In Anlehnung an das Modell der "Produktionscluster" wird das Konzept der Kompetenzfelder von drei Säulen getragen:

(a) Kompetenzfelder gründen sich auf (wachstumsintensive) "endogene Potenziale", die die Chance auf internationale Marktführerschaft bergen (KVR 2002, S. 3). Ein branchenspezifischer (groß-)betrieblicher Kristallisationskern ist dabei nützlich.
Produktgruppen
Quelle: Rehfeld 1999
(b) Kompetenzfelder erfordern eine Vernetzung der Unternehmen und Akteure entlang von Produktionsketten. Dabei werden alle Funktionen erfasst, "die für die Entwicklung, Herstellung und Vermarktung eines Produktes bzw. einer Produktgruppe notwendig sind (...)" (Rehfeld 1999, S. 48). Dieses schließt Behörden, Forschungs- und Bildungseinrichtungen, spezifische Dienstleistungen (z.B. Beratung, Risikokapitalgeber, ...) und verwandte Branchen ein.
(c) Die entlang der Produktionsketten orientierten Netzwerke müssen räumlich konzentriert sein. Ein Beispiel dafür, welche strukturpolitische Herausforderung sich hinter dieser einfachen Formulierung verbirgt, bietet die Region Emscher-Lippe mit dem Produktionscluster "Photovoltaik", das seinerseits nur ein Teilsystem aus dem Kompetenzfeld "Energiewirtschaft" bildet.
Wertschöpfungskette Produktionscluster Photovoltaik
Produktionscluster Photovoltaik
Quelle: Uchegbu 2002, S. 114
Das Konzept und die Inhalte der Kompetenzfeldwirtschaft werden an anderer Stelle (s. Thema "Kompetenzfeldwirtschaft") dargestellt.

Die strukturpolitische Strategie der Kompetenzfeldwirtschaft kann als vielversprechender Hoffnungsträger für das Ruhrgebiet gelten. Einige Warnsignale sind jedoch angebracht:
  1. Die für das Ruhrgebiet ausgemachten Kompetenzfelder liegen mehrheitlich im "Mainstream" regionaler Entwicklungsstrategien, wie sie auch andernorts - deutschlandweit, teils europaweit - angestrebt oder durchgeführt werden. Regionale Profilbildung wird über diesen Weg schwer fallen (vgl. Bömer 2000, S. 167).
  2. Wie jede Wachstumsstrategie, so könnte auch das Modell der Kompetenzfeldwirtschaft die sozialen und innerregionalen Disparitäten verschärfen statt abbauen. Ob die flankierenden Programme der "Bildungsoffensive", des "Beschäftigungspakts" und der auf soziale Probleme ausgerichteten Handlungsfelder, u.a. "Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf" (s. Thema "Stadtentwicklung") ausreichende Auffangstrategien bieten, bleibt anzuwarten.
  3. Die unternehmerische und institutionelle Vernetzung entlang der Wertschöpfungskette und innerhalb eines Raumes stellt hohe Anforderungen an zeitintensive Prozesse der Kommunikation und Vertrauensbildung. Im Zeichen leerer Kassen sind unterstützende Anreiz- und Förderungssysteme aber nur sehr beschränkt verfügbar.
  4. Kreative Milieus innerhalb solcher Netzwerke lassen sich nicht (struktur-)politisch herstellen, sondern nur - wenn vorhanden - stärken: "Denn eine Region, die Merkmale horizontaler oder vertikaler Desintegration aufweist, kann sich nicht ohne weiteres zu einem produktiven regionalen Milieu entwickeln" (Häußermann 1992, S. 19).