Wie sehen die Bewohner selbst das Ruhrgebiet?

Die Einstellung der Ruhrgebietsbewohner lässt zwischen Ende der 1980er Jahre und dem Jahr 2001 einige deutliche Entwicklungen beobachten. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die zu Grunde liegenden Untersuchungen unterschiedliche Methoden verwendet haben und daher nicht in ihren Detailergebnissen vergleichbar sind.

Zum einen scheint der Bezug zur Region gestärkt, obwohl die Städte zum wichtigsten identitätsstiftenden Ort geworden sind. Noch zwölf Jahre zuvor war die Region mit einem außerhalb vermuteten, vorherrschenden Negativ-Image besetzt, das verschiedene Strategien mentaler Absetzbewegungen hervorrief und damit gleichzeitig das Negativbild festigte. Zu jener Zeit waren auch (noch) die Ortsteile dominante Identifikationsorte: Man verstand sich z.B. nicht als Herner, sondern als Sodinger.

Als ein Ergebnis unter anderen stellten sich in einer Untersuchung aus dem Jahr 1989 drei Reaktionsmuster bzw. "mentale Absetzbewegungen" heraus:

Der Typ 1 bezieht sich auf Menschen, die in der Nähe der Ballungsrandzone leben und sich sozusagen aus dem Ruhrgebiet herausreden: "Wir sind ja hier gar nicht mehr im Ruhrgebiet!". Im Regionsinneren griff diese Strategie der mentalen Absetzbewegung natürlich nicht mehr und wurde ersetzt durch den Typ 2: "Schauen Sie doch nach draußen. Alles grün hier! Wir leben hier wie im Paradies. Da müssen Sie erst mal in das tiefste Ruhrgebiet nach XY (d. Verf.) gehen!" Abgesehen davon, dass die entsprechenden Namensnennungen so gut wie alle Städte einschloss, verdichteten sich derlei Empfehlungen in Herne. Dort nachgefragt, konnte der "Schwarze Peter" in der Tat nicht mehr mit dem andernorts üblichen Brustton der Überzeugung weitergereicht werden. Was also machte der Herner, um sich eine identifikationsfähige Heimat zu bewahren? Er hat eine dritte Strategie gefunden (Typ 3): "Es ist doch schön hier. Das hätten Sie nämlich mal früher sehen müssen!" (Aring et al. 1989).
Ruine auf dem Gelände der Jahrhunderthalle in Bochum
Quelle: Autorenteam
So hat sich jeder seine geliebte lokale Heimat aus einer insgesamt nicht als identifikations- und liebenswürdig erachteten Region ausgegrenzt.
Häuser in der Kohlenstraße in Bochum
Quelle: Autorenteam
Eine Identifikation mit der Gesamtregion wurde gerade durch dieses "Schwarze-Peter-Spiel" unmöglich gemacht. Denn die eigene Wohngegend wertete man ja dadurch auf, dass die Umgebung abgewertet oder die eigene kleine Lebenswelt einer Art Gesundsprechung unterzogen wurde. Lokale oder gar regionale Probleme gelangten so nicht in das praktische Alltagsbewusstsein. Eine Solidarität unter Betroffenen fand hier ebenso wenig Nährboden wie Ansätze zur Selbsthilfe, die über Straßenfeste und Bürgerinitiativen hinaus zu einem lokal oder gar regional verantwortlichen Engagement hätten führen können.
Etwa ein Jahrzehnt später aber gab es in zwei Untersuchungen eindeutige Anzeichen für ein gestärktes regionales Selbstbewusstsein. Im Jahr 1997 kommt eine Repräsentativ-Studie zur "Regionalen Identität und Identifikation mit dem Ruhrgebiet" zu dem Ergebnis, dass sich knapp 80 % der Befragten als Menschen aus dem Ruhrgebiet bezeichnen. Diese hohe Identifikation mindert sich allerdings deutlich, wenn es außerhalb der Region - z.B. Süddeutschland - um die Erklärung geht, wo man lebt. Nur noch knapp 48 % benennen das Ruhrgebiet und im Ausland nur noch knapp 38 %. Differenziert man die Selbstverortung nach Innen- und Außenbezug der Standorte, wird immer noch eine (altbekannte) Diskrepanz erkennbar (Academic Data o. J. (1997) o. S.). Die Untersuchung von Stuke aus den Jahren 2001/2002 belegt an Hand einer Repräsentativ-Umfrage, dass die Gesamtregion Ruhrgebiet mehr und mehr in den Blick und ins Bewusstein rückt: Der Begriff Ruhrstadt wird mehrheitlich als neue Verwaltungseinheit verstanden, die Hälfte der Befragten ist stolz auf diese Region, das Selbstbewusstsein als Ruhrgebietsmenschen ist gestärkt. Fast 92 % (!) der Befragten halten zukünftig eine stärkere Zusammenarbeit der Städte für wichtig, um die Probleme lösen zu können. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung erwartet mehr administrative und politische Einheit nach innen und mehr gemeinsame Interessenvertretung nach außen (Stuke 2002, S. 28, 36, 129, 138).

Auch glaubt nur noch jeder dritte Befragte, dass man außerhalb der Region schlecht über das Ruhrgebiet denkt: Die Zeiten des (vermuteten) Negativ-Images neigen sich offenbar - im Gleichtakt mit der Umgestaltung und Positivbesetzung zur Industriekultur - dem Ende zu: Die kulturelle Attraktivität der Ruhrgebietsstädte rangiert vor allem in Bezug auf Konzerte, Opern und Theateraufführungen in ihrer Beliebtheit vor Düsseldorf und Köln (Stuke 2002, S. 46, 72).

Konkret nach den positiven Merkmalen des Ruhrgebietes gefragt, nennt die Mehrheit die Menschen an erster Stelle, gefolgt von Landschaft (ein Reflex auf das Negativ-Image?), Freizeit und Kultur. Das CentrO und Stätten der Industriekultur führen die Nennungen jener Attraktionen an, die man Besuchern von außerhalb der Region am liebsten präsentiert. Die Arbeitslosigkeit und soziale Probleme führen die Mängelliste an (Stuke 2002, S. 72, 76, 83).

Wie sehr sich das Ruhrgebiet inzwischen auch mental von seiner Bergbau-Vergangenheit gelöst hat, wird darin deutlich, dass fast drei Viertel der Befragten einer weiteren Reduzierung oder gar Abschaffung des Bergbaus zustimmen (Stuke 2002, S. 147).

Das gefestigte Selbstbewusstsein hat sich nicht zuletzt im und durch das Medium Fußball artikuliert.