Regionalbewusstsein im Ruhrgebiet?

Zechenkolonie: Spuren der bäuerlichen Herkunft
Quelle: RVR-Fotoarchiv
Das historische Ruhrgebiet ist sicherlich nie eine kulturelle Einheitslandschaft gewesen. Es ähnelte vielmehr einer Mischung aus verschiedenen ethnischen, konfessionellen und lokalen Eigenarten seiner Bewohner und Zuwanderer. Von den Zuwanderern wurde eine Anpassung an die Gesetzmäßigkeiten der Industriewelt gefordert, nicht aber die Preisgabe ihrer soziokulturellen Identitäten.

Erst um die Jahrhundertwende kam es unter dem Einfluss von Bergbau, Groß- und Schwerindustrie, Technik und Massenzuwanderung zur Ausbildung übergreifender regionalkultureller Gemeinsamkeiten, die das Ruhrgebiet gleichzeitig immer stärker von ihrer westfälischen und rheinischen Umwelt abhoben.
Schrebergartenidylle im Ruhrgebiet
Quelle: RVR-Fotoarchiv
Ging mit den entstandenen kulturellen Gemeinsamkeiten auch die Entwicklung eines Regionalbewusstseins einher? Objektiv vorhandene regionale Gemeinsamkeiten, wie z.B. eine besondere Sprache, eine Geschichte und Geographie oder regionstypische Lebensweisen und Mentalitäten bedürfen einer Pflege, Ausdeutung der Medien und Kommunikation der Gemeinsamkeiten. Genau hier lagen die Probleme, denn das Bürgertum war schwach und nicht in der Lage, kulturelle Maßstäbe zu setzten. Gerade Lehrer und Pfarrer, üblicherweise die Hauptträger eines regionalen Bewusstseins, orientierten sich in ihrer Lebenseinstellung auf die Provinzen Rheinland und Westfalen und pflegten deren Kulturgut.
Mit dem Rückzug der Montanindustrie entstanden zwischen dem sich verstärkenden schwerindustriellen Negativ-Image, der traditionellen Alltagskultur und der bürgerlichen Hochkultur unüberbrückbare Gräben.
Trinkhalle an der Wattenscheider Straße in Bochum (2003)
Quelle: Autorenteam
In der politisch engagierten Arbeiterschaft hatte das Prinzip der "basisnahen Stellvertretung" in verfestigten parteipolitischen Strukturen spürbare Folgen. Ein eigenständiges Mitdenken - z.B. im Sinne eines rechtzeitig sich formierenden Protestpotenzials - konnte jahrzehntelang nicht eingeübt werden. Solche erworbene "Hilflosigkeit" ist heute zwar angesichts sinkender gewerkschaftlicher Macht und neuer parteipolitischer Strukturen kein Hindernis mehr bei partizipatorischen Planungs- und Beteiligungsansätzen "von unten". Aber r Wattenscheider Straße in entsprechende Traditionen und Erfahrungen fehlen. Zivilgesellschaftliches Engagement muss auf eine breitere Basis gestellt werden.
Es besteht sicherlich die Bereitschaft, sich auf eine Ruhrgebietskultur einzulassen, vielleicht aber mehr noch: das Bedürfnis nach identifikationsstiftender symbolischer Regionsbezogenheit. Es reicht von Rockmusik (Herbert Grönemeyer) über Kabarett (Dr. Stratmann), Film/Fernsehen (Schimanski), Szene (Zeche Carl, Bermuda-Dreieck) bis zum Fußball ("Ruhrpott! Ruhrpott!", s.u.) und vom Bergbau über das Rheinische und Westfälische Industriemuseum, Groß-Ausstellungen (z.B. "Feuer und Flamme") bis zur RuhrTriennale.

Die materiellen Grundlagen der einstigen Soziokultur sind (fast) verschwunden. Kohle und Stahl fungieren kaum noch als Bindeglied der alltäglichen Lebenswelt. Auflösungs- und Abgrenzungserscheinungen machen sich vor allem an den Rändern der Region bemerkbar (s.u.). Teile des Ruhrgebietes haben sich - unterstützt von der regionalisierten Strukturpolitik (s. Thema "Strukturpolitik für das Ruhrgebiet") - zu Interessenverbänden zusammengeschlossen (z.B. die Emscher-Lippe Agentur). Das ist Ausdruck der Tatsache, dass die Kommunen bzw. Gemeinde-Gruppen zumindest in einigen Bereichen sehr verschiedene Probleme und Interessenlagen besitzen (Rohe, 2001).

Ist also die Frage "Gibt es noch ein Ruhrgebiet?" berechtigt, die eine Untersuchung aus dem Jahr 2001 aufwirft (Schrumpf/Budde/Urfrei 2001)?