Bildungsblockade

Kaiser Wilhelm II.
Quelle: DHM, Berlin
Bis etwa Mitte der 1960er Jahre zeichnete sich das Ruhrgebiet durch ein europaweit einzigartiges Defizit aus: Eine Region mit knapp 6 Mio. Einwohnern besaß keine einzige Universität. Selbst die für den Bergbau erforderlichen Studiengänge musste man weit außerhalb der Region absolvieren, etwa in Aachen oder Clausthal-Zellerfeld (Harz).

Die katastrophale Bildungssituation im Ruhrgebiet war auf zwei Faktoren zurückzuführen: Zum einen duldete Kaiser Wilhelm II. (1859 - 1941) im Ruhrgebiet keine Hochschulen, da er befürchtete, dass eventuelle Verbindungen zwischen Arbeitern, Armee und geistigen Eliten nicht mehr kontrollierbar seien. Zum anderen wurde zur Blütezeit der Montanindustrie der große Bedarf an Arbeitskräften durch Einwanderungswellen überwiegend aus deutschen Ostgebieten und Polen gedeckt (vgl. Thema "Bevölkerung und Arbeit" in der Rubrik "Aufstieg und Rückzug der Montanindustrie"), die oft weder lesen noch schreiben konnten. Eine Lockerung der "Bildungsanforderungen" war die Folge (Noll/Rechmann 1989, S. 31). Diese doppelte Bildungsblockade konnte etwa drei Generationen lang aufrechterhalten werden.
Schulbesuche
Anteil der 16- bis 19jährigen, die weiterführende Schulen besuchen
Quelle: Autorenteam, nach Volkmann 1991, S. 88
So lag das gesamte Land Nordrhein-Westfalen im Jahr 1960 in der Ausstattung mit Studienplätzen weit unter dem Bundesdurchschnitt: Einem Anteil von 30 % der bundesdeutschen Bevölkerung standen nur 14 % der Studienplätze gegenüber. Damals wurden etwa 8.000 - 10.000 Studierenden je Universität zu Grunde gelegt, es fehlten somit mindestens fünf Hochschulen (Volkmann 1991, S. 88).

Man kam (erst) in jener Zeit zu der Einsicht, dass das niedrige Bildungsniveau anzuheben sei, wenn man nicht die notwendige regionalwirtschaftliche Erneuerung aufs Spiel setzen wollte (siehe nebenstehende Abbildung).
Mit der Eröffnung der Ruhr-Universität Bochum 1964 wurde der Grundstein für die heute dichteste Hochschul- und Forschungslandschaft Deutschlands gelegt und somit eine strukturelle Lücke der Region geschlossen. Weitere Universitäten und Fachhochschulen folgten (s. Thema "Hochschulen und Forschung" in der Rubrik "Erneuerung der Infrastrukturen"). Sie bilden das Fundament für eine hochqualifizierte Arbeiterschaft - eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Vorraussetzung für die Erneuerung der Regionalwirtschaft im Zeichen der jüngsten, von "Chip" und Informationstechnologie geprägten basistechnologischen Generation.
Luftbild der Ruhr-Universität Bochum
Quelle: RVR Luftbildarchiv
Die Einsicht begann sich durchzusetzen, dass sich wirtschaftliches Wachstum stärker auf die Anwendung und Nutzung neuer Technologien und dabei auf gutausgebildetes "Humankapital" stützen musste: Die Qualifikation der Beschäftigen wurde als wichtige Quelle der wirtschaftlichen Entwicklung erkannt und fand dementsprechend Eingang in die wirtschaftlichen Erneuerungsstrategien (Schlieper 1986, S. 184).

Die Bedeutung der Ressource "Wissen" sollte sich in den kommenden Jahrzehnten im Zuge der sich entfaltenden Wissensgesellschaft verstärken.